Nach 9/11 habe ich jeden Tag gebetet, dass es sich bei Anschlägen oder Amokläufen, bei den Täter:innen um keine Muslim:innen handelt. Jedes Mal brach nach solchen Taten eine neue Diskussion darüber aus, ob der Islam das Problem sei, die Migration oder der „Integrationsunwille“. Die Boulevard-Blätter stoßen die Debatten an, die Main-Stream-Medien und der ÖRR sprangen mit auf.
Ähnliches konnten und können wir noch immer in Echtzeit nach dem (mutmaßlichen) Terror-Anschlag von Solingen beobachten. Tatsächlich überbieten sich aktuell Politik und „Expert:innen“ mit Forderungen, die mit der Tat selbst nur wenig zu tun haben. Was können Menschen, die unter anderem politisches Asyl in Deutschland gesucht haben dafür, was ein illegal eingewanderter aus Syrien gemacht hat?
Sippenhaft nach Anschlag von Solingen
Wieso müssen jetzt alle Geflüchteten aus 2015 für die Tat eines 2022 eingewanderten Mannes unter Generalverdacht genommen werden? Der gesunde Menschenverstand würde allein eine solche Gehirnakrobatik verweigern. Dieser scheint aber aktuell – allen voran bei der größten Oppositionspartei – komplett in der Politik abhandengekommen zu sein.
Der Populismus rechter und rechtsextremer Parteien hat so gut gefruchtet, dass wir aktuell wieder nach einem Anschlag eine komplette Abkehr von grundrechtlich garantierten Rechten sehen. Der Tenor der Mitte-Parteien hat sich nach rechts verschoben und man ist gar nicht mehr erstaunt darüber, dass die Sprache sich kaum noch unterscheidet.
Das wäre natürlich halb so schlimm, wenn die Vorschläge tatsächlich etwas bringen würden. Es muss ja nicht so sein, dass jede Idee, die von einer bestimmten Ecke kommt, per se falsch sein muss. Es ist aber schon grotesk, dass man jetzt sogar dämliche Ideen übernimmt, weil man meint, die Gesamtbevölkerung wolle das. Das sind Momentaufnahmen. Populismus ist nie nachhaltig. Das wüssten auch gescheite Politikberater, wenn man nicht kurzfristig denken und agieren würde.
Unterschiedliche Ziele, die alle nicht zum Nutzen Deutschlands sind
Der Opposition geht es darum, die Regierung ordentlich in den Schwitzkasten zu nehmen, der Regierung darum, die vollkommen zerstrittene Ampel auch noch über diese Krise hinwegzuretten. Tatsächlich nutzen tut keiner dieser Gruppen die aktuelle Diskussion um geeignete Maßnahmen. Und darunter sind viele Nebelkerzen.
Ein Messerverbot beispielsweise. Wir wissen, dass Attentäter sich immer ein Messer besorgen können. Ein Küchenmesser mit einer langen Klinge werden sie in jedem Supermarkt kaufen können. Es liegt in der jeder guten Küche rum und eignet sich für Terroristen hervorragend als Tatwaffe. Ein Messerverbot wird dieses Problem nicht lösen. Denkt eigentlich irgendjemand, dass es Terroristen interessiert, wenn da irgendwo ein Schild hängt, wo steht: Messer nicht erlaubt?
Die Rückführung nach Afghanistan oder Syrien ist genauso bescheuert. In Afghanistan regieren mit den Taliban eine der größten Terror-Organisationen der Welt. Deutschland gehört weiterhin zu den Ländern, die nicht alle Brücken abgebrochen haben, zu einem Regime, das gerade besonders frauenfeindlich agiert. Gleichzeitig hat man ohnehin kaum Flüchtlinge aus dem Land aufgenommen, als es darum ging, Menschen zu retten, die die Taliban definitiv töten wollen würden. Und jetzt soll man afghanische Flüchtlinge zurückschicken? In ein Land, in denen ihnen Knast und Folter drohen? Gelten Menschenrechte nur für weiße?
Nach Syrien abschieben – wie und wen?
Syrien ist ja noch interessanter. 2015 war das Jahr der enormen Einwanderung aus dem Bürgerkriegsland. An sich könnte man heute (auch nach Meinung vieler mit dem Thema vertrauter Menschen) nach Syrien abschieben. Aber die Menschen, die 2015 zu uns eingewandert sind, besitzen häufig gar keinen Flüchtlingsstatus mehr. Viele sind eingebürgert worden, genauso wie viele hier zur Schule gegangen und eine Niederlassungserlaubnis erhalten haben. Wen also abschieben? Vermutlich neue Flüchtlinge. Und da kommt die Krux ins Spiel.
Abschiebungen scheitern in Deutschland häufig. Darüber spricht man nicht gerne, aber es gibt einschlägige Reportagen und aus Insider-Kreisen erhält man hierzu immer wieder die gleiche Geschichte: Trifft man die Person, die abgeschoben werden soll, nicht an, dann ist das Thema erstmal durch. So war das auch im Fall des Attentäters von Solingen. Der Mann war irgendwo gemeldet und konnte nicht abgeschoben werden, weil man ihn nicht angetroffen hat.
Wollen wir mehr Clan-Kriminalität?
Solche Debatten und auch die vorgeschlagenen Lösungen führen auch deshalb nicht zu mehr Sicherheit, weil jetzt sogar im Raum steht, den Geflüchteten das Geld zu kürzen. Sieht man sich das Musterland der Diskriminierung von Geflüchteten an, dann ist das Dänemark. Es ist richtig, dass Dänemark die Einwanderung massiv begrenzt hat und seine Flüchtlinge – aus meiner Sicht – sehr unmenschlich behandelt. Zu den Fakten gehört aber auch, dass die Flüchtlinge, die dort geblieben sind, häufig in die Kriminalität abrutschen.
Um es mal salopp zu sagen: Wenn man Geflüchteten keine Bleibeperspektiven und Möglichkeiten schafft, dann darf man sich in Deutschland über Clan-Kriminalität überhaupt nicht aufregen. Denn die aktuellen Debatten über sog. Clan-Kriminalität ist häufig genau das Ergebnis dessen, was man jetzt vorhat zu tun. Eine erneute Verschärfung der Asyl- und Flüchtlingsgesetze wird diese Kriminalität weiter verschärfen. Es gibt also keine bessere und stärkere Sicherheit durch die Schaffung solcher Einschränkungen.
Was braucht es dann?
Florian Flade hat heute in der Tagesschau die Frage gestellt, ob man überhaupt Terror-Anschläge stoppen kann. Die Antwort ist ziemlich einfach: Nein. Prävention und Deradikalisierung sind weiterhin (und die Debatte zieht sich seit Jahren) zwar langfristige Ansätze, aber sie erreichen in aller Regel keine Erfolge bei möglichen Attentäter:innen. Gleichzeitig sind Erfolge nicht wirklich messbar. Es ist wie bei den Simpsons, wo eine Bären-Steuer eingeführt wird, der vor einem Überfall von Bären schützen soll und Lisa Simpson ihrem Vater Homer einen Stein verkauft, weil der verhindere, dass es keine Bären in der Umgebung gibt.
Wir verwechseln häufig Ursache und Wirkung. Wenn der Attentäter von Solingen integriert worden wäre, hätten wir diese Debatte ganz anders geführt. Er hat aber weder die Schulbank gedrückt und eine Ahnung davon gehabt, wie unsere Demokratie funktioniert, noch hätte er in einem Rahmen Präventionsarbeit oder Deradikalisierung erfahren können. Stattdessen flüchtete der Mann vor einer Abschiebung.
Man kann Attentate nicht verhindern!
Entsprechend sind diese Debatten auch falsch positioniert. Tatsächlich fehlt es, wie Flade auch in seinem Beitrag deutlich macht, an Mitteln, solche Einzeltäter ausfindig machen zu können. Die Befugnisse der Geheimdienste reichen nicht aus, was nicht unbedingt falsch sein muss, wenn wir Datenschutz und Persönlichkeitsrechte aller Bürger:innen ernst nehmen. Aber wir müssen uns dann die Frage stellen, wie wir solche Attentate in Zukunft verhindern wollen.
Das geschieht im Grunde in vier Schritten:
- erstens: Deutliche Aufstockung von Sicherheitspersonal und Ressourcen
- zweitens: Konzepte für Sicherheit auch für solche Feste wie in Solingen
- drittens: ein politisches Bewusstsein dafür schaffen, dass Deutschland ein Ziel für Anschläge ist
- viertens: Nüchterne Debatten und politische Führung in Krisenzeiten
Diskussion zu Solingen stellt nicht die richtigen Fragen
Im Fall Solingen wird aktuell die gesamte Debatte auf die Bundesebene bezogen. Die Bundesregierung soll schuld sein. Das ist aber auch nur Populismus. In einem solchen Fall schaut man sich das Sicherheitskonzept der Veranstalter an, die Krisenkonzepte der Stadt und der Polizei. Alles wird aktuell ausgeblendet, weil die Pseudo-Debatte um Migration alles überschattet. Eine echte Aufklärung kann so gar nicht gelingen. Daran ist vielen Akteur:innen auch aktuell gar nicht gelegen. Vermutlich würden unangenehme Ergebnisse folgen, die uns alle den Schlaf rauben könnten.
Wir brauchen keine Angst vor Anschlägen zu haben
Was Terroristen wollen, ist klar, oder? Sie wollen Angst und Schrecken verbreiten. Aber ich möchte ein bisschen Mut machen. In Deutschland haben sich im vergangenen Jahr mehr als 10.300 Menschen selbst das Leben genommen. Die Zahl der Menschen, die durch einen Terror-Anschlag in 2023 ums Leben gekommen sind, beträgt nicht einmal 100 Personen. Wenn wir konservativ rechnen, kriegen wir nicht mal das Dutzend voll. Es ist also wahrscheinlicher, sich selbst das Leben zu nehmen, als bei einem Terror-Anschlag draufzugehen.
Die gefühlte Angst, die uns Medien und Politik aktuell machen, ist ein Resultat der Dauerberieselung. Es suggeriert uns, dass wir Angst vor Terror-Anschlägen haben müssen. Das müssen wir aber gar nicht. Wir müssen vielleicht unser Verhalten ändern, was größere Menschenansammlungen betrifft. Aber auch das wird nicht lange anhalten. Denn die alltäglichen Sorgen überschatten das Agendasetting medialer und politischer Diskurse.
Unsere Probleme brauchen Lösungen
Die Menschen treiben ganz andere Sorgen aktuell. Wir sind kurz vor September und die ersten Abrechnungen für die Heizungsnebenkosten, darunter auch die Heizkosten, trudeln ein. Die Energie-Preise, die massiv gestiegenen Lebenshaltungskosten, die Rentenproblematik, fehlende Wohnungen oder aber selbst die Umweltproblematik sind heute für die Menschen wichtigere Themen als die Diskussion um die Rückführung von eingewanderten Menschen. Illegale Migration ist ein Problem, keine Frage. Aber Deutschland schafft sich dadurch nicht ab. Wenn aber Menschen weder von ihrer Rente noch von ihrer Arbeit leben können, dann ist das ein gravierendes Problem.
Es ist also die Frage, ob dieses aktuelle Agendasetting wirklich dazu führen wird, dass wir ein sichereres Deutschland haben. Ich denke, die Antwort ist: Nein. Und aus meiner Sicht werden diese Debatte nur die Parteien politisch überleben, die endlich nüchtern, staatsmännisch und vor allem mit Weitblick an die Sache rangehen und die tatsächlichen Probleme der Menschen in diesem Land angehen. Wir führen tatsächlich eine Luxusdebatte, für die wir eigentlich keine Ressourcen haben.
Eine gute Opposition hätte das längst erkannt und einen deutlichen Profit geschlagen. Stattdessen dürften diese Diskussionen nur die Parteien aus den Rändern, links wie rechts, stärken. Die Mitte ist leider verloren.
Nach Solingen – zu den aktuellen Nonsens-Debatten