Ein Anruf weckt dich aus dem Halbschlaf. Du hast eigentlich einen harten Arbeitstag vor dir, mit wichtigen Deadlines. Doch die Zeit steht still, nachdem du aufgeweckt wurdest und in Kenntnis gesetzt bist. Du schreibst deinem Chef eine Nachricht, dass du dir kurzfristig, aus privaten Gründen, freinimmst. Er fragt, ob alles okay sei: Ist es nicht.
Du gehst in die Dusche und spürst die Hitze nicht. Du willst nur wach werden und hoffst noch immer, dass du träumst, aber es ist die Realität. Du ziehst dich an, der nächste Anruf kommt. „Kommst du in die Moschee?“ Du bejahst und machst dich langsam auf den Weg. Vor Ort rauchst du die nächste Zigarette. Deine Lunge brennt härter als die Zigarettenstummel.
In deinem WhatsApp-Postfach quellen die Nachrichten über. Du schaust dir die Bilder an und bist überrascht, dass er es überhaupt heil da rausgeschafft hat. Du willst an den Türen vorbeigehen, bleibst aber bei der Sterbekasse stehen. Am Ende gehst du doch rein, aktualisierst deine eigenen Daten und fragst die Daten von deinem Freund ab. Vorsichtshalber. Sicher ist sicher.
Krankenhäuser sind mir nicht lieb
Zum Mittagsgebet gehst du alleine hoch. Der Schock sitzt bei allen tief. Es gibt keine neuen Nachrichten. Es ist unklar, ob er es überlebt. Aber beten will irgendwie niemand. Man unterdrückt die Gefühle, die man hat, mit Zigaretten, Tee oder Kaffee. Härtere Drogen würde man vermutlich nehmen, wenn man nicht einen Funken Gottesfurcht hätte.
Wir sind im Krankenhaus. Die Familie bangt um das Leben. Gleichzeitig kommen immer mehr Details über die Umstände zutage. Das meiste ist Spekulation. Die einfachste Erklärung ist häufig auch die wahrscheinlichste. Daran musst du denken, als die Spekulationen überhandnehmen. Du gehst erneut beten.
Krankenhäuser sind dir nicht lieb. Hier lag bereits einmal ein Freund. Er hatte eine heftige Kopfverletzung und überlebte nur mit Ach und Krach. Aber er hatte sich danach sehr verändert. Hier starb ein geliebter großer Bruder an den Folgen eines Hirnschlags. Das letzte Mal warst du hier, als der Leiter der Orthopädie wegen eines Unfalls in einem Zimmer lag und dein Vater ihn unbedingt besuchen wollte.
Hoffnung und Trauma
Du erinnerst dich an längst vergangene Tage. Das Trauma kehrt zurück. Der Verlust und dabei nur funktionieren zu können ohne zu trauern ist wahr. Du suchst Trost im Gebet und findest Trost in der Leitung anderer zum Gebet. Die Fachkraft kann dir keine Auskunft geben, wie es um deinen Freund steht, aber die ersten Infos aus anderen Quellen trudeln ein. Wir sagen Alhamdulillah (Gott sei dank).
Ich bete jeden Tag für seine Genesung. Alle sind positiv gestimmt. Auch die Ärzte sagen, er habe die lebensbedrohliche Situation überstanden und werde bald wieder gesund. Es wird ein langer Weg mit Reha und Co. Aber er lebt und das ist die Hauptsache. Hin und wieder erreichen uns Berichte, er sei ansprechbar. Er reagiere auf Personen und Stimmen, heißt es immer wieder.
Es ist Freitag, mein Chef fragt, ob alles okay sei, wegen Mittwoch und dem plötzlichen Tag frei. Ich kann gut darüber sprechen. Ich erzähle, was vorgefallen ist und dass es meinem Freund schon besser geht, er über den Berg ist. Mein Chef freut sich für mich. Ich mache pünktlich Feierabend und lege mich erschöpft ins Bett. Es war ja auch eine harte Woche – emotional und psychologisch ungesund.
Zeichen
Ein penetranter Anruf weckt mich aus dem Schlaf. Ich nehme ab. „Hallo?“ – „Mein Beileid Akif abi.“ Inna lillahi wa inna ilayhi radschiuun. Inna lillahi wa inna ilayhi radschiuun. Inna lillahi wa inna ilayhi radschiuun. Ich wiederhole die Worte, immer und immer wieder, um mich zu beruhigen. Wir kommen von Allah und zu Ihm ist unsere Heimkehr.
Das Krankenhaus ist voll, im Patientenzimmer wechseln sich diejenigen ab, die sich von ihm verabschieden wollen. Auf seiner Brust liegt ein Koran, sein Gesicht ist weiß wie das eines Engels. Die Mutter und Freunde trauern am Totenbett. Er schläft tief und fest, und ich habe die seltene Möglichkeit, mich noch persönlich zu verabschieden. In diesem Moment hört das Verleugnen der Realität auf.
Nicht mal eine Woche zuvor saßen wir noch zusammen, gingen essen, fuhren zu einem gemeinsamen Freund, lachten und tranken Tee in gemeinsamer Runde. Auf dem Rückweg bat ich ihn, die kurdische Musik mal etwas lauter zu machen. Er bat mich, mich mit ein paar Leuten wieder zu vertragen. Wir hatten noch so viel vor. Das nächste Treffen war bereits geplant.
Ich habe seinen letzten Willen an mich erfüllt. Und bei der letzten Pflicht ihm gegenüber, standen wir auf dem Friedhof in Öjendorf. Der Himmel war grau, der Regen nieselte vereinzelt auf uns herab. Der Wind blies uns um die Ohren. Doch als wir das Totengebet verrichteten, kam für einen kurzen Moment die Sonne hinter den Wolken hervor und der Wind war still. Für diejenigen, die Zeichen deuten können, war es eine Erlösung. Für andere nur ein Wetterphänomen.
Unter der Koranrezitation grub ich meine Hände in den Sand und schüttete es über sein weltliches Grab. Der Tod geliebter Menschen macht uns nachdenklich und ist zugleich eine Ermahnung an uns selbst. Alles in diesem Leben ist vergänglich. Was bleibt, sind gute und nachhaltige Taten sowie Erinnerungen – solange es Menschen gibt, die einem gedenken.
Trauma