Welchen Stellenwert hat Nachbarschaft im Alltag von Muslim:innen oder besser gesagt: Welchen Stellenwert sollte gute Nachbarschaft im Leben von Muslim:innen einnehmen? Ein paar Gedanken und Quellen für einen Einstieg in das Thema.
Gute Nachbarschaft ist ein wichtiger Bestandteil einer funktionierenden und starken Gesellschaft. Muslim:innen sind dazu angehalten, soziale Wesen zu sein. Sie müssen sich für den Zusammenhalt der Gesellschaft starkmachen. Sie müssen sich für den Schutz der Gesellschaft einsetzen. Dort, wo der Zusammenhalt nicht funktioniert, müssen sie sich für Verbesserungen einsetzen. Denn nur eine funktionierende Nachbarschaft trägt zu einer funktionierenden Gesellschaft bei.
Nachbar:innen sind uns, nach unseren eigenen Familien und Angehörigen, die nächsten Menschen. Man begegnet der Hausgemeinschaft fast jeden Tag, obwohl sie nicht zur Familie gehören. Und obwohl die Begegnungen mehr oder weniger stattfinden, bleiben uns unsere Nachbar:innen oft fremd. Gerade Muslim:innen muss es jedoch ein Anliegen sein, an diesem Nebenher etwas zu ändern. Nachbarschaftspflege gehört zu den religiösen wie moralischen Pflichten von Muslim:innen.
Nachbarschaft in Deutschland
Nachbarschaft ist für viele Menschen in Deutschland ein Fremdwort geworden. Oft hat man mit den eigenen Nachbar:innen eher ärger als eine gute Beziehung. Selbst wenn man sich gerade nicht über die eigenen Nachbar:innen ärgert, ist die Kommunikation oft auf ein Minimum reduziert. Verständlicherweise wollen viele einfach in Ruhe gelassen werden. Gerade deshalb lesen wir aber auch immer wieder über unterhaltende Nachbarschaftsstreitigkeiten. Nachgestellte Nachbarschaftsstreitigkeiten gehören außerdem zum regulären Scripted-Reality-Programm im linearen Fernsehen wie auch bei Streaming-Diensten.
Zudem beschränkt sich die Kommunikation mit Nachbar:innen im Alltag oft nur auf ein „Hallo“ im Flur. Und leider leben wir auch in einem Land, in dem Nachbar:innen sterben können und ihr Tod jahrelang unentdeckt bleibt. Verwahrlosung und Vereinsamung sind Bestandteil des Zusammenlebens in Deutschland. Mann kann aber an diesen Zuständen etwas ändern. Gerade Muslim:innen können sich auf eigene Stärken der Religion und eigener moralischer Maßstäbe zurückbesinnen und sich für das Wohl der Gesellschaft und Gemeinschaft einsetzen.
Nachbarschaft pflegen: Eine religiöse Pflicht
Die gute Nachbarschaft ist als Thema so wichtig für Muslim:innen, dass es auch im Koran erwähnt wird. So heißt es in der Sura Nisa, Vers 36:
„Und dient Allah und setzt Ihm nichts an die Seite. Und seid gut zu den Eltern, den Verwandten, den Waisen, den Armen, dem Nachbarn, sei er einheimisch oder aus der Fremde, zu den Kollegen, den Reisenden und zu denen, welche ihr von Rechts wegen besitzt.“
Der Koran: Sura Nisa, Vers 36
Der große malikitische Koran-Mufassir (Kommentator, Exeget) Imam Qurtubi (ra) schreibt in der Erläuterung dieses Verses:
„Siehst du nicht? Allah hat nach dem guten Behandeln der Eltern und der Verwandten, auch die Nachbarn erwähnt und befohlen, ihre Rechte zu achten.“
Imam Qurtubi (ra)
Ein wichtiger und erwähnenswerter Punkt bei diesem Vers ist auch die Unterteilung der Nachbar:innen in nah und fremd, oder einheimisch und fremd. Als nahe Nachbar:innen werden diejenigen Nachbar:innen bezeichnet, die Tür an Tür miteinander wohnen. Fremde Nachbar:innen sind jene, die örtlich gesehen nicht nebeneinander wohnen, aber trotzdem als Nachbar:innen gezählt werden müssen.
Wer gehört nach islamischen und muslimischen Maßstäben zur Nachbarschaft? — Eine Frage der Auslegung!
Es gibt keine klare Abgrenzung einer Nachbarschaft in Bezug auf ihre Größe. Beispielsweise vertrat Aischa (ra), Mutter der Gläubigen, die Auffassung, dass in einem Umkreis von 40 Häusern alles zur Nachbarschaft zählt. Ali (ra), Schwiegersohn des Propheten (saw) und recht geleiteter Kalif, wird die Auffassung zugesprochen, dass in einem Umkreis, in dem man die Stimme noch hören kann, alles zur Nachbarschaft zählt. Obwohl letztere Behauptung eher als schwach begründet gilt, wird sie dennoch im Unterricht für Jugendliche und bei ethischen Aspekten angeführt.
Diese unterschiedliche Interpretation des Rahmens muss so gedeutet werden, dass der Bereich für die Nachbarschaft absichtlich groß gehalten werden muss, um ein besseres gesellschaftliches Engagement und Verantwortungsgefühl zu bewirken. Dies muss aber nicht zwangsläufig die einzige Erklärung sein. Als fremde oder entfernte Nachbar:innen gelten auch diejenigen Personen, die zwar Tür an Tür mit Muslim:innen wohnen, aber selbst keine Muslim:innen sind. Auch für diese Nachbar:innen muss man sich als Muslim:innen verantwortlich fühlen.
Die Sunnah sagt: Tue deinen Nachbar:innen Gutes!
Und in den „Gärten der Tugendhaften“ (Riyad us Salihin) finden sich auch diese bekannten Aussprüche des Propheten Muhammad (saw):
„Wer an Allah und den Tag der Abrechnung glaubt, der soll seinem Nachbarn Gutes tun.“
Prophet Muhammad (saw)
„Wer an Allah und den Tag der Abrechnung glaubt, der soll seinem Nachbarn kein Unrecht tun.“
Prophet Muhammad (saw)
Ferner finden sich auch in weiteren klassischen Werken Aussagen und Aussprüche vom Propheten (saw), die man kennen sollte.
Ibn ‘Abbas sagte zu Ibn az-Zubayr: “Ich habe den Propheten gehört, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden gewähren, dass er sagte: ‘Wer sich den Bauch vollschlägt, während sein Nachbar hungert, ist kein gläubiger Mann.”
Al-Adab Al-Mufrad 112
Es wird von Abu Huraira berichtet, das der Gesandte Allahs (Friede und Segen sei mit ihm) bemerkte: “Derjenige wird das Paradies nicht betreten, dessen Nachbar nicht vor seinem Fehlverhalten sicher ist.”
Sahih Muslim, 46, Buch des Glaubens
Ibn Umar (ra) und Aischa (ra) berichteten: Der Gesandte Allahs (möge Allahs Frieden und Segen auf Ihm sein) sagte: “Gabriel empfahl mir immer wieder, die Nachbarn freundlich zu behandeln, bis ich dachte, er würde einen Teil der Erbschaft an diese abtreten.”
Sahih Muslim und Bukhari
Allah (swt) und sein Gesandter (saw) haben die Muslim:innen also durch den Koran und auch durch die Sunnah klar dazu aufgefordert zu allen Nachbar:innen, unabhängig von ihrer Abstammung und ihrer Religion, barmherzig zu sein. Daran ändert auch ein unterschiedlicher Glaube nichts und auch das Vorbild der Prophetengefährten (ra) spricht Bände über die gute Nachbarschaft. Schließlich war gute Nachbarschaft auch immer wieder das erste Zeichen für viele Menschen, den Islam als eine schöne Religion zu begreifen und als ihre eigene Religion anzunehmen.
Gute Nachbarschaft ist eine Frage des wahrhaften Glaubens!
Die Aussprüche und Berichte vom Propheten Muhammad (saw) in Bezug auf die Nachbarschaftspflege lassen aufhorchen. In mehreren Hadithen wird deutlich, dass die Pflege der Nachbarschaft so wichtig ist, dass man ohne eine gute Nachbarschaft kaum einfach so durch die Tore des Paradieses eintreten kann. Die Erläuterungen zu diesen Überlieferungen gehen allerdings davon aus, dass die Überlieferungen vor allem als Weckruf dienen und die Muslim:innen dazu bewegen sollen, sich selbst und ihr Verhalten im Lichte des Glaubens zu reflektieren und zum Positiven zu verändern.
Wer als Muslim:in gut sein will, muss auch eine gute Beziehung zu den eigenen Nachbar:innen pflegen — so und nicht anders sollte die Interpretation sein. Es ist also ein Ansporn, auf die Nachbarschaft besonderen Wert zu legen. Vor allem aber warnen die Überlieferungen vom Propheten (saw) all diejenigen, die der gesellschaftlichen Verantwortung entfliehen möchten und zur Spaltung aufrufen. Eine Parallelgesellschaft, die sich von der Mehrheitsgesellschaft abkapselt, kann keine (islamische) Lösung sein. Muslim:innen sind angehalten, sich aktiv und sozial für ihre Gesellschaft einzubringen.
Was kann man für eine gute Nachbarschaft mindestens tun?
Wir leben in einer Gesellschaft, in der es heutzutage sogar empfohlen wird keinen Kontakt zu den eigenen Nachbar:innen zu pflegen, weil man sich ja immer streiten könnte. Es gibt aber keinen vernünftigen Grund, warum man nicht die wenigsten Punkte für eine gute Nachbarschaft einhalten sollte. Dies bedeutet, sich beispielsweise zu grüßen, wenn man aufeinander im Treppenhaus trifft. Ebenso gehört es sich, für einen sauberen Durchgang im Treppenhaus zu sorgen. Man sollte gerade die Ruhezeiten achten und versuchen niemanden unnötig zu stören.
Weiterhin ist es eine Selbstverständlichkeit, dass man den Nachbar:innen beim Tragen hilft, wenn man sieht, dass diese damit überfordert sind. Gerade in Coronazeiten ist es auch wichtig, den älteren Nachbar:innen Hilfe anzubieten. Dass man den alten Nachbar:innen bei ihren Einkäufen hilft, dass man die kranken Nachbar:innen besucht und im Todesfall den Nachbar:innen kondoliert, sollte zu einem ordentlichen Umgang gehören. Ebenso kann es auch eine gute Geste sein, Pakete und Lieferungen für die Nachbar:innen entgegenzunehmen, wenn diese nicht da sind. Es sind also Regeln des normalen Umgangs, die man mindestens einhalten sollte.
Muslim:innen sollten die Feste nutzen für ein besseres Miteinander
Ebenso bietet es sich an, gerade bei muslimischen Festen, gelegentlich den Nachbar:innen kleine Geschenke zu überreichen. Gerade beim Opferfest kann dies auch in Form von Essen geschehen, ebenso wie es beim Ramadan-Fest in Form von Süßigkeiten oder Süßspeisen geschehen kann. Auch eine Einladung zu einem türkischen Tee oder Ähnliches wäre nicht verkehrt. So kommt man ins Gespräch und kann einander auch eventuell helfen.
Das sind aber nur ein paar minimale Empfehlungen. Der Alltag kann anders aussehen und auch vielfältiger und besser gestaltet werden. Es gibt zwar kein Patentrezept für eine gute Nachbarschaft, aber man kann, um es kurz zu sagen, all das tun, was man auch für sich selbst von guten Nachbar:innen wünschen würde. Um es frei mit Gandhi zu sagen:
“Man kann selbst die Änderung sein, die man sich für diese Welt wünscht.”
Ghandi
Beispiel vom Propheten (saw) für eine gute Nachbarschaft
Die wohl bekannteste Geschichte über Nachbarschaft und die Nachbarschaftspflege ist die vom Gesandten Allahs (saw).
Dieser hatte einen nicht-muslimischen Nachbarn, der ständig jeden Tag seinen Müll vor der Haustür des Gesandten Allahs (saw) deponierte. Der Prophet (saw) ertrug diese Angriffe still und leise und beschwerte sich nicht darüber. Doch als eines Tages der Müll nicht wie gewohnt vor seiner Haustür deponiert war, machte sich Allahs Gesandter (saw) Sorgen um seinen Nachbarn und besuchte ihn Zuhause. Der Mann war tatsächlich erkrankt und der Besuch führte zu einem besseren Verhältnis.
Dieses Beispiel vom Propheten (saw) ist ein Mahnmal für alle, die versuchen sich von der Gesellschaft loszusagen und ihren Islam in ihren vier Wänden leben zu wollen. Selbst der Gesandte Allahs (saw) war um seinen Nachbarn, der Müll vor seiner Haustür deponierte, besorgt. Dies ist ein Zeichen dafür, dass die Nachbarschaft so wichtig ist, dass man selbst gegenüber denen barmherzig sein muss, die einem den Müll vor die Haustür stellen.
Hinweis in eigener Sache: Die an dieser Stelle dargestellte Geschichte beruht auf einer Erzählung aus dem Türkischen, die wiederum vielfach als Hadith erzählt wird. Als ich diese Zeilen schrieb, da habe ich an der Geschichte wenig Zweifel gehabt, was vermutlich auch daran liegt, dass dieser Text mittlerweile etwas über 9 Jahre alt ist. Zuletzt wurde er 2020 aktualisiert. Mittlerweile gibt es aber auch ordentliche Nachforschungen zu der oben dargestellten Geschichte.
Was feststeht ist lediglich, dass der Prophet (saw) von seinen Nachbarn häufig drangsaliert wurde. Darunter waren solche Namen wie Abu Lahab und Uqba ibn Abi Mu’ayt, die ihren Dreck und Müll vor der Haustür des Propheten (saw) abließen. Er hat diese Mühsal ertragen und überwunden.
Vermutlich ist diese Geschichte von diesen realen Bedrängnissen inspiriert gewesen. Ich möchte an dieser Stelle Jens Ranft für den Hinweis auf die jüngste Arbeit von Muhamet Ziberi diesbezüglich danken. Er hat heute auf Twitter auf diese Thematik aufmerksam gemacht, die ich sonst nicht mitbekommen hätte. Ich habe daher die falsche Geschichte aus „Transparenzgründen“ gestrichen, aber nicht komplett entfernt.
Ich bitte, diesen Fehler zu entschuldigen. In der Kernbotschaft bleibe ich aber dabei und werde bald diesen Text komplett überarbeiten und in diesem Fall bessere Beispiele aus der Sunnah bringen, die nicht auf einer erfundenen Geschichte basieren.
Beispiel von Abdullah Ibn Umar (ra) für den Umgang mit Nachbar:innen
Abdullah ibn Umar (ra) ließ seinerzeit das Fleisch eines geschächteten Lamms an seine Nachbar:innen verteilen. Er ordnete dabei an, dass das geschächtete Fleisch zuerst bei den nicht-muslimischen Nachbar:innen verteilt wird. Abdullah ibn Umar (ra) räumte damit seinen nicht-muslimischen Nachbar:innen ein Vorrecht am Fleisch ein und bevorzugte sie ausdrücklich vor seinen eigenen muslimischen Geschwistern und Nachbar:innen.
Dieses Beispiel macht vorwiegend deutlich, dass die Nachbarschaft zu denen, die uns fremd und fern sind, stärker gepflegt werden muss, als zu denen, die uns nah sind. Es darf zudem keine Bevorzugung in der Nachbarschaft geben, nur weil diese Muslim:innen sind.
Beispiel für gute Nachbarschaft unter Sultan Mehmet Han
Sultan Mehmet Han (Fatih der Eroberer) ging einst verkleidet auf den Basar von Istanbul, um zu sehen, wie es um die Moral, aber auch um die Qualität der Waren im Land bestellt war.
Als er beim ersten Händler einkaufen wollte, gab dieser ihm nur einen Teil seiner gewünschten Waren und verwies den Sultan auf seinen Nachbarn unter den Händlern. Dieser habe die entsprechenden Waren in besserer Qualität und noch keinen Gewinn gemacht, benötige aber das Geld für seine Familie, sagte der erste Händler über den zweiten.
Der Sultan ging zum zweiten Händler und versuchte seinen Einkauf bei diesem zu komplettieren, aber auch hier bekam er nur einen Teil seiner Waren, und der Händler erklärte, er habe zwar Gewinn gemacht, aber die weiteren Waren bei seinem Nachbarn, seien von noch besserer Qualität und dieser habe auch Verkäufe nötig, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.
Der Sultan war beeindruckt von dieser Einstellung und dem Zusammenhalt der Händler und auch von der Qualität der Waren. Es waren immer nur gute Waren, aber fast jeder Händler wies auch auf seinen Nachbarn hin, dem es vermeintlich am Verkauf und Gewinn mangelte. Keiner war ausschließlich am alleinigen eigenen Profit interessiert, sondern daran, dass es allen gut ging.
Der Sultan sagte zur Situation:
„Mit dieser vorbildlichen Moral kann dieses Volk die Welt für sich gewinnen. Möge Allah diejenigen verfluchen, die die Moral und Sitte des Volkes zerstören.“
Fatih Sultan Mehmet Han
Nachbarschaft im Islam