Ein mir lieb gewonnener Mensch hat mich vor ein paar Tagen angerufen und um Rat gebeten. Er fühlt sich in letzter Zeit etwas leer und ausgelaugt. Aus einem unbekannten Grund ist er —, obwohl jetzt schon längere Zeit wieder in Deutschland — einfach nicht heimisch geworden. Deutschland fühlt sich für ihn nicht nach Heimat an. Er kann aber das Problem nicht beschreiben und kein Mensch versteht ihn.
Hätten wir dieses Gespräch vor ein paar Jahren geführt, hätte ich ihm gesagt, er soll sich nicht so anstellen. Tatsächlich kennt man dieses Gefühl nur dann, wenn man aus dem Schema des Alltäglichen ausbricht und sich mit der eigenen Existenz weiter beschäftigt. “Hamburg ist meine Heimat. Hier fühle ich mich wohl.”, war meine mantraartige Antwort auf diese Frage. Doch heute sieht es anders aus und das hat wenig mit den politischen Entwicklungen in der gesamten Bundesrepublik zu tun.
Soziales Konstrukt fehlt
Mein Freund ist ein Migrant im klassischen Sinn und stellt eine neue “Generation von Gastarbeitern” dar. Er kommt aus dem Balkan, wo man sich kulturell eher so verhält, wie ich es aus der Heimat meiner Eltern kenne. Es ist da egal, ob es in der Woche ist oder etwas später am Abend. Fast immer gibt es Besuch. Man trinkt gemeinsam Çay und schnackt über alle möglichen Themen. Dieses soziale Konstrukt von Freundschaft, von Familie und Gemeinschaft fehlt meinem Freund gerade sehr stark.
Daher fühlt er sich nicht in Deutschland wohl. Die Kompensation kann durch verschiedene Dinge erfolgen. Einige nutzen heutzutage ihre Kulturvereine dafür, dieses lebendige Dasein aus der Heimat weiterleben zu lassen. Andere finden großen Halt in der Gemeinschaft und Religion. Wieder andere finden diesen Halt in der eigenen (kleinen) Familie. Freunde können auch zur Kompensation dienen, wenn man nicht ständig das Gleiche tut, Woche für Woche.
Einsamkeit
Doch das Problem ergibt sich erst, wenn man all diese Möglichkeiten zur Kompensation gar nicht hat. Das Umfeld fehlt, die Freunde verstehen einen nicht, die Familie ist einem entwachsen und die Moscheegemeinde längst nicht mehr der Ersatz für Heimat. Was soll man dann tun? Ein introvertierter Mensch kann sich immerhin noch eine Katze zulegen oder die nächsten Hundert Euros für Bücher ausgeben.
Was ist aber mit Menschen wie mir? Oder meinem Freund aus dem Balkan? Was sollen wir tun? Was hält uns eigentlich noch hier, wo wir uns nicht mehr sozial aufgefangen und innerlich erfüllt fühlen? Die Arbeit? Das Geld? Ganz sicher nicht. Das Besondere an “Deutschland”? Nö. Wir müssen ehrlich zugeben: Eigentlich hält uns nichts mehr hier.
Freizeit?
Ich dachte einmal, dass ich ein ruhiges und schön langweiliges Leben mit einem lieben Menschen verbringen würde. Es sollte nicht sein. Seitdem bin ich realistisch. Die Dinge um uns herum haben uns einen Lebensstil aufgezwungen, der nur noch darin besteht, dass man zur Arbeit geht, nach Hause kommt, isst und schläft.
In diesem Konstrukt gibt es keinen echten Raum für Freunde, für Familie oder Gemeinschaft, weil die wenige Zeit, die wir als “Freizeit” bezeichnen, für “wichtige” Dinge draufgeht. Wir stopfen selbst unsere Arzttermine aus Pflichtbewusstsein auf Zeiten, in denen wir nicht arbeiten oder holen diese Zeiten wieder auf, weil wir glauben, dass unsere Arbeit wichtig ist.
Das Leben ist kein Zuckerschlecken
Im Grunde ist alles, was wir tun, nicht effektiv. Wir leben, wie in einem Brutkasten, so vor uns hin. Und wir erwarten irgendwie, dass irgendein Wunder uns erlöst von unserem langweiligen Dasein. Düster, nicht wahr? Aber so ist das Wahre leben. Es ist kein Zuckerschlecken.
Nachdem ich meinem Freund also die Unterschiede zwischen der Deutschen- und der Balkan-Kultur erläutert habe, habe ich ihn gefragt, wie oft er an seinen Wochenenden mal mit seiner Familie einfach in eine der nächstgelegenen Städte gefahren ist, einfach nur um den Ort zu erkunden, wie oft er schon in einem Restaurant mit seiner Frau Zeit verbracht hat, wie oft er mit seinem Sohn einfach zum Schokolade machen in eine kleine Werkstatt gegangen ist.
Selfcare
Er hat Familie und kann diese — anders als ich — immer sehen. Er kann sich die Zeit, die er hat, gut aufteilen und diese Zeit besonders machen, indem er sich die Zeit für die Familie nimmt. Es ist auch eine Form von Selfcare, wenn man Dinge tut, die einem guttun. Er mag es z. B. in der freien Landschaft spazieren zu gehen, auch mit einem Regenkittel durch nasse Landflächen zu stampfen.
Ich habe ihm angeraten, mal ins Taunustal zu reisen, wo erst kürzlich eine Arbeitskollegin war. Dort gibt es auch Kurstädte mit alten historischen Bauten und grünen Landschaften, wie in Bad Homburg vor der Höhe. Von dem Konsum der Heilquellen rate ich dringend ab. Das schmeckt widerlich, zieht aber wohl immer noch die Menschen in ihren Bann, die sich von einem Schluck etwas mehr Gesundheit wünschen. Kommen wir aber zurück zu Menschen wie mir.
Heimat ist dort, wo man sich wohlfühlt
Ich werde vermutlich, wenn die Dinge geklärt sind und ich eine Option sehe, von hier dann doch auswandern. Natürlich ist das kein durchdachter Plan, aber ich bin von allem enttäuscht, was mir widerfahren ist und ich möchte glücklich sein. Und ich glaube, ich werde das Glück irgendwo anders finden, wo ich mehr Menschen um mich herum habe, wo es abends an meiner Tür klingelt und Besuch ansteht, der sich nicht angemeldet hat.
Cicero sagte einmal: “Heimat ist dort, wo man sich wohlfühlt.” Aktuell fühlt sich Hamburg nach Arbeit an. Vielleicht ändert es sich eines Tages auch wieder. Aber ich möchte wirklich endlich ankommen und mich wohlfühlen. Und es ist mir egal, wo und in welchem Land das ist. Und den Einwand “Die Türkei wartet auf dich.” eines Bruders zitierend, meine Antwort auf alles gerade: “Ich denke eher an Sizilien, wo Werte noch etwas bedeuten.”
Vielleicht ist das Problem von Menschen wie mir nicht, dass wir uns nicht heimisch fühlen, sondern dass wir in das Umfeld nicht passen. Ich bin gerade, wie man auch an diesem Text erkennt, kein Kind dieser Zeit. Aber irgendwo in diesem Universum habe auch ich bestimmt einen Platz, wo ich zur Ruhe kommen kann.
Heimat