Die Veränderungen der Social-Media-Landschaft
Vor einigen Tagen bin ich auf ein Zitat gestoßen: „Der beste Zeitpunkt, um X zu verlassen, war vor zwei Jahren, der zweitbeste Zeitpunkt ist jetzt.“ Leider erinnere ich mich nicht mehr, woher der Kommentar stammt, aber er hat seine Berechtigung. (Für zweckdienliche Quellenhinweise bin ich dankbar.) Seit der Corona-Krise hat sich die Social-Media-Landschaft radikal verändert, und viele Nutzer:innen kehren X (früher Twitter) den Rücken – zu Recht, wie ich finde. Schließlich gibt es heute zahlreiche und gute Alternativen.
Von Web 2.0 zur Nische
Als ich das erste Mal im „Web 2.0“ aktiv wurde, ging es mir darum, mit meinem Blog Aufmerksamkeit und Reichweite zu erzielen und einen Raum für Themen zu schaffen, die in den Mainstream-Medien (damals wie heute) wenig Beachtung fanden. Doch mit dem Aufstieg sozialer Medien wurden klassische Foren und Blogs zur Nische. Es galt von da an, mehr Reichweite für Themen zu schaffen oder Einfluss auf Debatten zu nehmen, indem man Social Media dafür nutzt.
Twitter (heute X) als Sonderfall
Unter den Plattformen hatte Twitter (heute X) eine besondere Stellung: Es war das Netzwerk für Journalist:innen und Echtzeitinformationen. Wann immer es eine aktuelle Meldung gab, war diese zuerst auf Twitter. Wir konnten teilweise sogar Revolutionen live beobachten. Obwohl X wiederholt Hypes erlebte, wurde es nie „das Netzwerk“ schlechthin, sondern diente viel mehr als zusätzliche Plattform und Informationsquelle sowie als Katalysator für Revolutionen oder zivilgesellschaftliche Organisation – Zeiten, die längst vorbei sind.
Übernahme durch Elon Musk
Mit der Übernahme durch Elon Musk hat sich X zu einem Instrument für rechte und rechtsextreme Diskurse entwickelt. Der Ton ist härter, die Polarisierung größer – was vor allem an Musks rigorosen Umstrukturierungen liegt. Um das Unternehmen profitabel zu machen, führte er neue Abomodelle ein, die die Reichweite der Nutzer:innen einschränkten.
X ist seit der Übernahme von Musk nur noch ein Schatten seiner selbst. Vor diesem Hintergrund erscheint es seltsam, dass Politiker wie Robert Habeck (Grüne) gerade jetzt auf die Plattform zurückkehren, obwohl das Zielpublikum längst abgewandert ist und schon gar nicht mehr über X erreicht wird.
Wer bleibt und warum?
Was bleibt, sind Influencer:innen, die auf X Reichweite haben, die sie anderswo nicht mehr so erzielen. Gleichzeitig hat das Netzwerk ein toxisches Umfeld entwickelt, das positive Debatten verhindert. Entsprechend ist X – aus meiner Sicht – „tot“. Es lohnt sich nicht da hinterherzutrauern, man muss sich tatsächlich verabschieden und „Rest in Peace“ sagen und sich danach nicht mehr drum kümmern.
Abschied von X
Vor einigen Wochen habe ich meinen eigenen X-Account deaktiviert. Ich hatte nie eine große Followerzahl, nutzte X aber für aktuelle Nachrichten und den Kontakt zu engen Freund:innen. Doch seit der Deaktivierung meines Accounts fehlt mir nichts. Ich konsumiere Nachrichten wieder klassisch und fühle mich nicht schlechter informiert, sondern im Gegenteil. Ich bin weder den toxischen Kommentaren, Debatten noch der Schnelllebigkeit des Informationsflusses ausgesetzt.
Stattdessen habe ich auf Threads von Facebook eine neue Heimat gefunden – weniger politisch, dafür persönlicher. Hier teile ich Gedanken, lese die Geschichten anderer Menschen und knüpfe neue Kontakte und auch Beziehungen. Auch Bluesky bietet laut Freund:innen eine gute Alternative, wenn man denn das wertschätzt, was Twitter immer ausgemacht hat.
Soziale Netzwerke und die Illusion der Unersetzlichkeit
Wir sollten uns von der Illusion lösen, dass soziale Netzwerke unersetzlich sind. Zwar erreichen Plattformen wie BlueSky und Threads gefühlt bisher nicht die Reichweiten, die man aus schönen Twitter-Tagen kannte, aber das ist nur eine Frage der Zeit. Je mehr Nutzer:innen umsteigen, desto schneller geht das und wir sehen tatsächlich Abwanderungsbewegungen, was nicht nur auf X bezogen ist.
Auch exzessives YouTube-Schauen wird immer unattraktiver, wenn man nicht gerade ein Abo hat. Die unzähligen Werbeunterbrechungen beim Schauen meiner Lieblingsserien aus der Türkei haben mich zur Suche nach Alternativen bewegt – erfolgreich. Soziale Netzwerke wie X und YouTube profitieren von unseren Gewohnheiten.
Sobald wir diese ändern, gewinnen wir mehr Unabhängigkeit. Das bedeutet am Anfang auch, dass unbequem wird, wir aus unserer Komfort-Zone ausbrechen, aber – und das ist das gute – wir gewöhnen uns auch schnell wieder um.
Die Zukunft der sozialen Medien und KI
Es liegt an uns, Netzwerke zu meiden, die toxische Umfelder schaffen oder einseitig auf Profit abzielen. Die Abwanderung von klassischen Social-Media- und Konsummedien hat gerade erst begonnen. Künstliche Intelligenz könnte diesen Prozess beschleunigen. Es entstehen gerade jetzt Möglichkeiten, die unvorstellbar waren.
Gleichzeitig haben Elon Musk und Co. gezeigt, dass sie nicht die Visionäre sind, die sie vorgaben, zu sein. Sie haben demonstriert, wie gefährlich die Konzentration von wichtigen Plattformen in den Händen falscher Personen werden kann für unsere Gesellschaften und Demokratien. Gerade TikTok zeigt hier ein anderes Phänomen des gleichen Problems.
Qualität und das Gefühl, gut aufgehoben zu sein, werden sich im Netz jedoch langfristig durchsetzen. Sollten Plattformen wie X, TikTok oder Facebook weiterhin Hatespeech ignorieren, wird der Druck, Alternativen zu etablieren, steigen. Denn Social Media und alle Plattformen, die wir heute kennen, basierten auf einer Idee.
Ideen haben die gute Angewohnheit, sich weiterzuentwickeln und an neue Herausforderungen anzupassen. Und das Beste ist: Ideen kann man nicht töten.
X ist tot – Anfang einer Massenmigration im Web?